Teardrop
Es gibt eine Stelle in deinem Gesicht, so an den Backen, kurz über den Mundwinkeln, etwas nach außen. Dort ist mein safe space. Hab ein Foto von Dir, da sieht man diese Stelle gut, in Aktion quasi, leicht lächelnd. Das genügt für das restliche Leben.
Erwacht. Köstlich geschlafen. Ich liebe es, wenn die Krähen auf meiner Ebene Manöver fliegen, in der früh ist es nochmal schöner. Kühl ist es draußen, knapp über Null Grad. Die Feuchtigkeit hab ich aus der Wohnung gelassen, die Fenster waren lange offen, bis der Beschlag verdampft war. Hab meinen Grinskatzenpullover an, den dicken, dick orange und pink quer gestreiften. Sitze am Tisch und denke nach. Um diese Zeit kann ich noch nicht gut in der Arbeit erscheinen, an einem Sonntag. Wochentags geht natürlich auch früher, da bin ich zwei mal pro Woche sogar um 7:20h dort. Bloß, heute ist Sonntag.
Also hab ich Zeit, Euch was zu erzählen. Der grüne Tee hat auch schon Betriebstemperatur, ich gieße ihn erst an mit kochendem Wasser, dann schütte ich den Rest des Wassers in die kleine Teekanne und stelle das Sieb aus dem zuerst aufgebrühten hinein. Der erste Schock der Teeblätter wird weggeschüttet.
Dieses panische komplett bewußt anwesend sein pausenlos, auf der geistigen Ebene, ein gewisser alerter Zustand, ist anstrengend und ich bin froh, dass er endlich vorbei ist. Sich fallen lassen zu können, in Situationen, Gespräche, Zustände. Ziemlich geil. Sogar der Anschlag der Tasten klingt anders, wie sanfter Regen, nicht mehr gehetzt, entspannt, aber klar.
Bei der Kristallisation von Metall werden Fehler in der atomaren Struktur an die Ränder gearbeitet. Unter mechanischer Bearbeitung, also walzen, biegen, hämmern, stauchen, dünner ziehen. Dadurch wird das Material immer härter.
Gestern hörte ich einen Podcast, und da fiel ein schöner Inhalt: 'da wurde er wieder flüssig' nicht auf monetäre Belange gemünzt, sondern auf einen seelischen Zustand ohne Verpanzerungen, es war das Gefühl beschrieben, anwesend zu sein, im Augenblick, eine Art - na keine Ahnung - Verflüssigung eben.
Vielleicht verlinke ich das später, aber es ist, glaub ich, hinter einer Bezahlschranke. Oder höre nochmal und schildere dann, das ist aber unwahrscheinlich, weil ich ja dazwischen den ganzen Tag arbeiten werden und also viel erleben, wovon ich dann sicher lieber erzähle.
Wenn also die Fehler, das, wofür man sich schuldig fühlt, was man gefühlt oder tatsächlich falsch gemacht hat, im Leben, auch an die Ränder gearbeitet werden, ist es möglicherweise das, was ich unter 'sich selbst verzeihen, aber bereuen' verstehe. Man kann sich oft für Dinge nicht mehr entschuldigen, die man falsch gemacht hat. Man nimmt sie mit, und wenn sie einen hier und da überfallen und man deswegen seine Flüssigkeit verliert, vor Scham und Wut auf sich selbst, könnte man doch versuchen, dieses große Ding an den Rand zu schieben. Ich stelle mir dann vor, dass ich, kurz bevor ich sterbe, erzählen werde, und wenn es nur die Pflege-Roboter-Plüsch-Robbe sein wird einst, die zuhört, was mir echt leid tut. Dann brauche ich meine kostbare Zeit gerade, in der ich keine Chance habe, etwas rückgängig zu machen oder gar zu büßen dafür, nicht mit Kummer und Verhärtungen zu verschwenden, sondern kann getrost meine Witze machen, lachen, fleissig arbeiten, mich um die Menschen kümmern, die ich liebe, und auch um die, die ich nicht liebe, so gut es geht, und mache etwas weniger neue Fehler vielleicht. Also ich weiß nicht, wie es euch geht, aber meine größten Gemeinheiten habe ich in den ärgsten Verkapselungsphasen meines Lebens von mir gegeben.
Als ich T ein Sms schrieb 'Wenn ich dich noch einmal sehe, muss ich ich umbringen.' Es war nichts vorgefallen, sie war immer für mich da gewesen, zuvor. Das kam aus heiterem Himmel, einfach so, weil ich nicht mehr wusste, wie ich aus meinem seelischen Schmerz herausfinden würde können. Oder wie ich R schrieb, ich hätte nur aus Mitleid mit ihm geschlafen, vor aller Öffentlichkeit. Ich hatte gar nicht mit ihm geschlafen, von Mitleid konnte keine Rede sein, ich war nicht verliebt, aber das kann man anders kommunizieren, meine vorrangigen Gefühle waren ANGST und WUT und HIILFLOIGKEIT. Genauso stark gefühlt wie groß geschrieben.
Darum ist es, meiner bescheidenen Meinung nach, vielleicht eine gute Idee, seine Sünden, sag ich mal so grob, vor sich zu offenbaren, sich einmal ganz bewußt hinzusetzen, und Punkt für Punkt durchzugehen, wo man denkt, einen anderen Menschen arg verletzt zu haben. Das tut sicher brutal weh, vielleicht sollte man das an einen Tag legen, an dem man nachher viel vor hat, damit man später vor den Schuldgefühlen flüchten kann, aber für diesen Moment eine geistige Liste erstellen, in der drinnen steht, was man zutiefst bereut.
Und dann gibt man diese Liste in seinen inneren Sekretär, und schreibt drauf 'in der Todesstunde zu öffnen' damit man dann dran denkt. Wenn die sich nähert, und man noch einen Sekretär hat, überhaupt, erinnert sich der Körper. Und dann erzählt man es, und wenn man nicht mehr sprechen kann, funkt man es dem Gummibaum, die können gut mit sowas umgehen. Und wenn man es vergessen hat bis dahin, dann war es wirklich nicht so schlimm.
Aber sobald die Liste in der Lade drinnen ist, verspricht man sich, sie nie wieder anzuschauen, bis zur letzten Stunde. Das ist ein relief, nicht nur für einen selbst, man ist dadurch frei, man hat es nicht verdrängt, es ist ja da, gut verschlossen, es wird dafür gerade gestanden, im christlichen Sinne auch um Vergebung gebeten, und gut ist.
Flüssig sein ist krass cool, der beste seelische Zustand ever. Da gibt es auch Angst und Traurigkeit und Kummer und whatever für Gefühle, die komplette Bandbreite eben, es ist kein überdrüberhappypeppy Zustand, mitnichten. Es ist der umfassende Zustand des Seins. Da will ich hin. Da bin ich oft. Meine Krücke gegen das Getriggert werden in die Verhärtung sind die kleinen Stöpsel im Ohr, die ich je nach Situation verwende oder nicht, denn es gibt schon Leute, die nicht safe sind, denen es einfach egal ist, ob sie dich beschmutzen, beschämen oder zu vernichten versuchen. Warum auch immer, seien es eigene Panzerschichten ums Herz oder Unsicherheiten oder manchmal auch einfach Ellenbogen ohne Chance auf Heilung, also die Welt ist kein Ponyhof, aber ich lieb die sehr. Und euch, euch Verflüssigte.
Salü!